Abgeschlossene Forschungsprojekte

Architektur und Mathematik. Entwurfskonzepte in justinianischer Zeit am Beispiel der Hagia Sophia in Istanbul (Arbeitstitel)

Innenraum der Hagia Sophia nach Osten
Innenraum der Hagia Sophia nach Osten

Habilitationsprojekt von Dr.-Ing. Helge Svenshon

Die Habilitation entsteht im Zusammenhang mit den gemeinsam mit Prof. Dr. phil. Rudolf H. W. Stichel durchgeführten Forschungen zur Hagia Sophia.

Die Hagia Sophia Justinians
Ein Bauwerk als 'Grosse Synthese' antiker Philosophie und Naturwissenschaft

Rudolf H. W. Stichel und Helge Svenshon

Die Hagia Sophia in Istanbul, im 6. Jahrhundert unter Kaiser Justinian errichtet, gilt allgemein als eines der ganz wenigen, weit herausragenden Beispiele der Weltarchitektur. Trotz einer vielfältigen und umfangreichen wissenschaftlichen Diskussion entzieht sie sich aber noch immer einem ausreichenden Verständnis. Wie bereits gleich nach ihrer Vollendung fasziniert den Besucher noch heute die scheinbare Schwerelosigkeit ihrer weit gespannten Gewölbe, die den riesigen Innenraum wie schwebend überdecken, während die dahinter stehende massive Konstruktion offenbar absichtlich der unmittelbaren Wahrnehmung entzogen ist.
Da die beiden Architekten dieses 'Raumwunders', Anthemios und Isidoros, zu den besten Mathematikern ihrer Zeit gehörten, liegt es nahe, nach der latenten Mathematik, die in den Ausmaßen des Baues verborgen ist, zu suchen, die wesentlichen mathematisch relevanten Strukturen festzustellen und damit ein Erklärungsmodell für den Entwurf und für die Bedeutung dieser außergewöhnlichen Architektur zu entwickeln.

Grundquadrat mit Seitenlänge 100 und Diagonale 100 x sqrt 2
Grundquadrat mit Seitenlänge 100 und Diagonale 100 x sqrt 2

Nach allgemeiner Überzeugung ist dabei von einem optisch kaum wahrnehmbaren Quadrat auszugehen, das im Grundriss zwischen den vier großen Hauptpfeilern liegt; mit einer Seitenlänge von fast genau 31 Metern ist es offenbar besonders sorgfältig angelegt. In diesen Strecken wird üblicherweise und auf den ersten Blick durchaus überzeugend ein Maß von genau 100 Fuß erkannt, obwohl kein verbindlicher Wert für den sog. byzantinischen Fuß überliefert ist.
Aufgrund dieser Annahme ergibt sich für die Diagonale zwischen den Pfeilern der irrationale Wert von 100 x sqrt 2 und der Folge davon eine große Anzahl weiterer, durch ihre geometrische Abhängigkeit vom Grundquadrat bedingte irrationale Baumaße, mit denen es schwerlich möglich gewesen wäre, dieses Bauwerk sauber zu planen, aufzureißen und schließlich präzise auszustecken.

Diagonal- und Seitenzahlen im Quadrat
Diagonal- und Seitenzahlen im Quadrat

Das Problem lässt sich jedoch mit einem mathematischen ‚Kniff’ überraschend einfach lösen. Wenn man nämlich die Länge der Quadratseite nicht als 100, sondern nur als 99 Fuß versteht, berechnet sich die Diagonale fast exakt auf 140 Fuß; der Fehler liegt jetzt nur noch im Tausendstel-Bereich und bleibt somit beim Bauvorgang irrelevant. Bildet man mit einem solchen Quadrat ein Oktogon bzw. ein Oktagramm, entstehen geometrische Strecken, die wiederum arithmetisch mit geringster Abweichung als ganzzahlig aufgefasst werden können (z.B. 29, 41).
Weitere Strecken mit gleichen Eigenschaften lassen sich durch Teilung bzw. Kombination erreichen und zu einer geometrischen Figur kombinieren, die den Grundriß des Baues eindeutig definiert. Um die Entwurfsgeometrie der Hagia Sophia zu vervollständigen, sind zusätzlich einige weitere Streckenwerte einzusetzen, als nahezu ganzzahlige Vielfache von sqrt 3 und von pi mit dem von den Architekten gewählten Maßssystem kommensurabel sind, nach antiken Berechnungsmethoden (Archimedes) sogar exakt (z.B. 41 x sqrt3 = 71; 140 x pi = 440 usw.).

Grundriss mit den rationalen Entwurfsstrecken
Grundriss mit den rationalen Entwurfsstrecken

Das ‚Zahlensystem’, das sich in der Geometrie der Hagia Sophia finden lässt, war im Klassischen Altertum wohlbekannt. Es wurde besonders auch in philosophischen Kreisen intensiv diskutiert, da die Weltschöpfung, wie nicht zuletzt bei Platon (besonders auch im Timaios), als geometrisches Problem aufgefasst wurde.
Für die antiken Denker war dies deswegen so wichtig, weil nach ihren Vorstellungen die Welt ‚ordentlich’ zusammengesetzt sei, eben ‚Kosmos’ ist. Bei der Suche nach dieser Ordnung wurde allerdings schon früh die Inkommensurabilität entdeckt, die in Konflikt mit diesem Weltbild steht und eine fortgesetzte intensive geistige Auseinandersetzung mit dem Phänomen erforderlich machte.
Auch in der Spätantike, kurze Zeit vor dem Bau der Hagia Sophia, wurde dieses gedankliche Problem von Proklos Diadochos, dem bedeutenden Haupt der Schule von Athen, behandelt. Dabei wurde immer wieder das Verhältnis der Seite zur Diagonale im Quadrat untersucht, die bei höheren Werten zu der Zahlenreihe führt (12, 17, 29, 41, 70, 99, 140), die, wie u.a. auch in einem detaillierten CAD-Modell des Baues nachgewiesen werden konnte, in der Geometrie der Hagia Sophia Anwendung fand.

Die beiden Architekten der Hagia Sophia, die von den besten Philosophen der Spätantike ausgebildet wurden, sich selbst intensiv mit der Mathematik beschäftigten, Werke der alten Mathematiker (Archimedes, Apollonios von Perge) herausgaben oder kommentierten, haben allem Anschein nach solche Kenntnisse miteinander vernetzt und beim Entwurf der Hagia Sophia angewandt. Indem sie Strecken kombinierten, die in ganzzahligem Verhältnis zueinander stehen, und die in einer schlichten geometrischen Figur topographisch eindeutig fixieren sind, konnten sie die Bauausführung in erheblichem Umfang erleichtern. Zugleich ermöglichten sie damit auch eine tiefgehende ideologische Interpretation, die in der Fortschreibung antiken Denkens steht, ohne den neuen christlichen Aufassungen der Zeit zu widersprechen.
Denn nach einer uralten These (Hippasos von Metapont, 5. Jh. v.Chr.), die in der Spätantike auf breitester Ebene diskutiert wurde (im 6. Jh. n. Chr. Johannes Philoponos, Asklepios von Tralleis, Boethius und Cassiodorus) ist die Zahl zugleich Paradeigma der Weltschöpfung, wie auch kritikon Organon des weltschöpfenden Gottes. Grundsätzlich in Übereinstimmung stehen damit Worte der Bibel, die Gott als den großen Architekten erkennen, der alles „nach Zahl, Maß und Gewicht“ geordnet hat.Die Hagia Sophia kann somit in gewisser Weise als verkleinerter und vereinfachter, aber dennoch ‚genauer’ Nachbau des Kosmos verstanden werden. Indem in ihr maßliche Irrationalität, also irdische Unvollkommenheit, möglichst vermieden wird, nähert sie sich dem unerreichbaren Urbild.
Allein schon dies ermöglicht dem Besucher im Sinne der Erbauer eine besondere Nähe zur unerreichbaren Gottheit, auch wenn er das System nicht unmittelbar zu durchschauen vermag.So leistet die antike Kultur, die wegen ihrer polytheistischen Traditionen vielfach im Gegensatz zum Christentum steht, mit den höchsten Leistungen ihrer Philosophie und Naturwissenschaften in der Hagia Sophia einen wesentlichen Beitrag, den Wahrheiten der neuen Weltanschauung bildhaft Ausdruck zu verleihen.

Dieses Projekt wird von der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) und dem ZIT (Zentrum für Interdisziplinäre Technikforschung) gefördert.

Vorberichte

Helge Svenshon: Das unsichtbare Oktagramm: Überlegungen zum Grundrissentwurf der Hagia Sophia in Konstantinopel. – in: Almanach Architektur 1998-2002: Lehre und Forschung an der Technischen Universität Darmstadt (Tübingen 2003), S. 234-243.

Rudolf H. W. Stichel: Die Kuppel an der 'goldenen Kette': Zur Interpretation der Hagia Sophia in Konstantinopel. – in: Almanach Architektur 1998-2002: Lehre und Forschung an der Technischen Universität Darmstadt (Tübingen 2003), S. 244-251.

Rudolf H. W. Stichel – Helge Svenshon: Das unsichtbare Oktagramm und die Kuppel an der 'goldenen Kette'. Zum Grundrissentwurf der Hagia Sophia in Konstantinopel und zur Deutung ihrer Architekturform. – in: Bericht über die 42. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung (Koldwey-Gesellschaft) 2002 (Stuttgart 2004), S. 187-205.

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